Die Rote Armee befand sich im dritten Winter auf dem Vormarsch, als Truppen der Ersten Ukrainischen Front am 27. Januar 1945 Auschwitz erreichten. Mehr als 7.000 KZ-Häftlinge, darunter Hunderte Kinder, verdanken ihre Befreiung der vorgezogenen Offensive, die das oberschlesische Industrierevier von der deutschen Kriegswirtschaft abschnitt. In den Kämpfen um die polnische Stadt Oświęcim kamen 231 Rotarmisten ums Leben, 66 fielen auf Auschwitzer Lagergelände.
»Unseren Augen bot sich ein schreckliches Bild: eine riesige Anzahl von Baracken … auf den Pritschen lagen Menschen … Skelette schon, mit Haut überzogen und abwesendem Blick. Es war schwer, sie ins Leben zurückzuholen«, erinnerte sich der Rotarmist Alexander Woronzow, der die Befreiung von Auschwitz filmisch dokumentierte.
Als die SS am 18. Januar 1945 etwa 58000 Gefangene aus den Auschwitzer Lagern und Nebenlagern bei tiefem Frost auf die Todesmärsche trieb, hatte sie annähernd 9.000 Marschunfähige in ungewisser Lage zurückgelassen. Auch nach Abzug der Wachposten konnten Häftlinge nur unter Lebensgefahr Essbares in verlassenen Baracken, Magazinen oder Lagerküchen organisieren. Denn patrouillierende SS und marodierende Wehrmacht bedrohten die ausgemergelten Menschen. Ein Spezialkommando der SS exekutierte noch 700 der kolonnenweise aus den Lagern getriebenen Gefangenen, bevor es am 25. Januar dieses systematische Massaker abbrach, um sich eilends nach Westen abzusetzen. Die SS wollte die Zeugen und die Spuren ihrer Verbrechen verwischen, verfeuerte große Teile der Lagerakten, setzte mehrere Magazinbaracken mit der den Deportierten geraubten Habe in Brand und sprengte in der Nacht zum 26. Januar in Birkenau auch das bis zuletzt funktionsfähige fünfte Krematorium.
Wochenlang dauerte die Verlegung der von Hunger, Krankheit, Frost und Erschöpfung gezeichneten Menschen aus den Barackenlagern von Birkenau und Monowitz in die im einstigen Stammlager Auschwitz hergerichteten Krankenstationen. Viele fanden Aufnahme bei polnischen Familien in Oświęcim und Umgebung. Die Überlebenden bedurften noch Wochen und Monate der Obhut von Ärzten, Pflegern und freiwilligen Helfern aus den Reihen des sowjetischen Militärs, des polnischen Roten Kreuzes und der befreiten Mitgefangenen. Mehr als 200 der ausgezehrten Menschen vermochten sie nicht mehr zu retten. Sie starben in den ersten Tagen nach der Befreiung.
Die sowjetische Kommission, die gemeinsam mit polnischen Experten und Überlebenden des Lagers die deutschen Verbrechen in Auschwitz dokumentierte, berichtete dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg, dass die Lager von Auschwitz dazu bestimmt waren, dauernd etwa 200.000 Menschen gefangenzuhalten, um diese durch in höchstem Maße entkräftende Zwangsarbeit auszubeuten und dann als nutzlos umzubringen.
Dieses Systems bediente sich zuerst die IG-Farben AG in Monowitz, die auch wegen des für sie lukrativen Zwangsarbeitsregimes Teile ihrer Produktion in das Annexionsgebiet verlegt hatte. Von den 12.000 ab Juli 1941 von der Wehrmacht der SS ausgelieferten sowjetischen Kriegsgefangenen wurden 600 Anfang September 1941 Opfer der ersten Massenvernichtung durch das Giftgas Zyklon B; 10.000 Rotarmisten hatte die SS bis zum Frühjahr 1942 verhungern lassen oder massakriert. Im März 1942 begannen die Massendeportationen der insgesamt 1,1 Millionen europäischen Juden nach Auschwitz: anfangs nur Arbeitsfähige, ab Mitte 1942 Menschen aller Altersstufen vom Säugling bis zum Greis, und ab 1943 auch 23.000 Sinti und Roma. Als »Sonderprogramm Prof. Speer« bezeichnete die SS den vom Rüstungsminister verlangten Einsatz der deportierten Juden in den Bergbau- und Industriebetrieben Oberschlesiens. Etwa 900.000 bei der Ankunft in Auschwitz von SS-Ärzten als nicht arbeitsfähig selektierte Juden wurden sofort in den Gaskammern vernichtet. Ab Mitte 1944 vermittelte die SS die Deportierten direkt zur Sklavenarbeit an die deutsche Rüstungsindustrie, die mehr als 1.000 KZ-Außenlager unterhielt. Als die Rote Armee das 1940 zur Unterdrückung des polnischen Widerstands gegen die deutsche Okkupation errichtete KZ befreite, befanden sich wahrscheinlich noch 150.000 Auschwitzer Gefangene in der Hand der SS, um zuletzt auf den Großbaustellen für die unterirdische Produktion der Rüstungsindustrie zu Tode geschunden zu werden.
Susanne Willems