Berlin – die vollständige Kapitulation

Stefan Doernberg: Ein Zeitzeugenbericht

 

„Wenn nicht alles täuscht, war ich der erste deutsche Emigrant, der bereits im April 1945 nach Jahren des Exils wieder Berliner Boden betrat. Mehr noch, ich wurde zu einem Augenzeugen von Aktionen, die unmittelbar zum ersehnten Kriegsende, und dies in der deutschen Hauptstadt führten. Das in einer doppelten Eigenschaft: als Deutscher, noch dazu gebürtiger Berliner, und als Offizier der Sowjetarmee.

Stefan Doernberg, (1924 - 2010)

Stefan Doernberg, (1924 – 2010)

Bereits am 22. Juni 1941, am Tag des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion, hatte ich mich 17jährig als Freiwilliger zur Roten Armee beworben, wenn ich auch mein weiteres Schicksal nicht ahnen konnte. Nach vorliegenden Recherchen waren es über tausend deutsche Antifaschisten, die in den Streitkräften der Staaten der Anti- Hitler- Koalition an der Niederringung der faschistischen Aggressoren mitwirkten. Vor allem in den britischen Streitkräften trafen sie diese Entscheidung im Bewusstsein, als wirkliche deutsche Patrioten zu handeln. In den Reihen der Sowjetarmee waren es etwa hundert deutsche Emigranten. Der Zufall wollte es, dass vier von ihnen, darunter Konrad Wolf, Marianne Weinert und Fritz Straube an der letzten großen Schlacht des Krieges, an den Kämpfen um Berlin teilnahmen. Ich war Leutnant im Stab der 8. Gardearmee, die den Weg von Stalingrad bis Berlin zurückgelegt hatte. So wurde ich dann als Dolmetscher zum Zeuge der Agonie, in der sich die Urheber des schlimmen Vernichtungskrieges von dem durch sie verschuldeten dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte verabschiedeten.

Am 30. April hatte sich der letzte Chef des deutschen Generalstabs General Hans Krebs als Parlamentär zum Befehlshaber der 8. sowjetischen Gardearmee General Wassili Tschuikow begeben. Als erstes eröffnete Krebs, dass Hitler Selbstmord begangen habe. Im Auftrag von Goebbels, des neuernannten Reichskanzlers des „Dritten Reichs“, schlug er den Abschluss eines separaten Waffenstillstands mit der Sowjetunion vor. Mit den seltsamsten Argumenten versuchte er dieses scheinheilige Friedensangebot schmackhaft zu haben. Natürlich ohne Erfolg. Es war ja eindeutig der letzte abenteuerliche Versuch, einen Spaltpilz zwischen die Alliierten der Anti- Hitler- Koalition zu treiben. Dönitz als neuernannter Reichspräsident sollte per Funk darüber informiert werden und sich bei den westlichen Alliierten anbiedern.

Sowjetischerseits wurde dieses durchsichtige Doppelspiel zurückgewiesen. Das anglo-amerikanische Oberkommando sollte ja unzweideutig damit erpresst werden, dass die UdSSR angeblich mit einer De-facto-Anerkennung der Regierung Goebbels die gemeinsam getroffene Vereinbarung, nur eine bedingungslose Kapitulation des faschistischen Regimes anzunehmen, gebrochen hätte. Dönitz hatte hierzu mit dem Chef des OKW Generalfeldmarschall Keitel, wie später bekannt wurde, bereits Schritte eingeleitet, darunter die weitgehende Einstellung des Widerstands an der Westfront bei anhaltenden Abwehrkämpfen an der Ostfront. Krebs musste sich unverrichteter Dinge zurückziehen. Er wie auch Goebbels begangen darauf Selbstmord. In Berlin aber dauerte das Inferno noch fast zwei Tage an.

Am Morgen des 2. Mai erschien dann General Weidling als Befehlshaber des Verteidigungsbereichs Berlin ebenfalls im gleichen Haus, am Schulenburgring 2 unweit vom Flugplatz Tempelhof, wo sich der Befehlsstand von General Tschuikow befand. ( Am Hauseingang befindet sich jetzt eine Gedenktafel ) Weidling entwarf dort handschriftlich den Befehl zur Kapitulation der Reste der Berliner Garnison. Ich wurde als Dolmetscher angewiesen, diesen Befehl mit der Schreibmaschine in mehreren Exemplaren abzuschreiben. Danach wurden alle Exemplare persönlich von General Weidling unterzeichnet. Eine der Durchschriften habe ich behalten. Merkwürdig erschien mir die Begründung für den Kapitulationsbefehl. Sie lautete: „Am 30.4.45 hat sich der Führer selbst entleibt und damit uns, die wir ihm die Treue geschworen hatten, im Stich gelassen“. Daraus also ergab sich für den General der Wehrmacht die Rechtfertigung für die Einstellung des Krieges. Trotzdem nahm ich mit großer Freude den neuen Auftrag entgegen, gemeinsam mit einem der Adjutanten von General Weidling sofort die Anweisung zur Einstellung der Kampfhandlungen den deutschen Einheiten an verschiedenen Abschnitten der Hauptkampflinie zu übermitteln. Das geschah unter Nutzung unseres Lautsprecherwagens, mit dem ich vorher oftmals zu Einsätzen unterwegs war, um die Soldaten und Offiziere der Wehrmacht aufzufordern, den schon seit Stalingrad immer sinnloser gewordenen Widerstand einzustellen und zumindest ihr eigenes Leben zu retten.

Am Nachmittag war dann die Kapitulation der gesamten Berliner Garnison beendet. In endlosen Reihen marschierten Zehntausende, unter ihnen viele Offiziere, darunter Generale, nun in die Gefangenschaft mit deren ungewissen Zukunft. Kein fröhlicher Anblick und doch das freudige Gefühl, dass der schlimme Krieg nun sein Ende gefunden hatte. Am späten Nachmittag suchte ich noch auf eigene Faust das Haus auf, in dem ich meine Kindheit verbracht hatte. Nach der recht mühsamen Fahrt durch die Trümmerlandschaft vom Potsdamer Platz bis Steglitz kam es zu einer bis heute unvergessenen, wenn auch nur kurzen Begegnung mit einigen Mietern, die sich noch an meine Eltern erinnerten. So war ich an diesem 2. Mai 1945 wirklich heimgekehrt.

Am 8. Mai erhielt ich mit anderen Offizieren den Auftrag, ein zur Tonaufzeichnung geeignetes Gerät aus dem Rundfunkhaus in der Masurenallee nach Karlshorst zu bringen. So wurde ich unverhofft am Abend Augenzeuge bei der Unterzeichnung der bedingungslosen Kapitulation in Berlin-Karlshorst. Damals empfand ich sie aber eher nur als eine eben noch zusätzliche amtliche oder auch bürokratisch notwendige Besiegelung der Zerschlagung des Aggressors und der Befreiung der europäischen Völker vom Faschismus. In meinem damaligen Verständnis war sie schon am 2. Mai mit der Einnahme und Befreiung von Berlin de-facto und historisch abgeschlossen. Dagegen war ich mir bewusst, dass ich Zeuge eines weltpolitischen Ereignisses geworden war, das unvergessen bleiben wird.“